Shibari in der Öffentlichkeit: Wie viel Freizügigkeit verträgt die Gesellschaft?
„Es ist wichtig, die Gesellschaft daran zu erinnern, dass es viele Facetten der Sexualität gibt. Die Art und Weise, wie man dies tut, darf jedoch gern auch angemessen sein. Mit den richtigen Zeichen kann man jeden einzelnen ermutigen, seine eigenen Bedürfnisse zuzulassen und sich mit seinem Partner immer wieder aufs Neue zu entdecken. Und so entsteht sicherlich auch irgendwann ein noch liberales und tolerantes Kollektivbewusstsein.“ – Aus meinem Artikel über den Vorfall in Erfurt.
Diese Aussage bleibt relevant, gerade in Anbetracht der jüngsten Ereignisse in Luzern, bei denen eine Gruppe während eines „Shibari-Picknicks“ in einem öffentlichen Freibad ihre Fesselkunst praktizierte. Das Video dieses Vorfalls sorgte für erhebliche Kontroversen, insbesondere weil Kinder anwesend waren und Zeuge dieser Praktiken wurden. Ein Teilnehmer verteidigte das Verhalten mit dem Argument, Shibari sei eine Kunstform, die keinen erotischen Hintergrund haben müsse, und stellte die Praxis als harmloses Hobby dar. Doch gerade die Reaktionen der Öffentlichkeit zeigen, wie fragil das Verhältnis zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung im öffentlichen Raum sein kann.
Parallelen zum Vorfall in Erfurt: Zwangskonfrontation oder Ausdruck der Freiheit?
Auch in Luzern standen die Teilnehmer des „Shibari-Picknicks“ vor der Herausforderung, dass unbeteiligte Passanten unfreiwillig mit einer Form der Sexualität konfrontiert wurden, die sie möglicherweise nicht verstehen oder akzeptieren. Ähnlich wie in Erfurt stellt sich die Frage: Ist es gerechtfertigt, solche Praktiken in der Öffentlichkeit auszuleben, wenn dies für andere Menschen, insbesondere Kinder, verstörend wirken könnte?
„Das Ausleben einer sexuellen Neigung in einer Art Zwangskonfrontation halte ich für unangebracht.“
Diese Worte, die ich nach dem Vorfall in Erfurt geschrieben habe, gelten auch hier. Während es beim Christopher-Street-Day oder anderen bekannten Veranstaltungen eine bewusste Entscheidung ist, sich mit den Themen der sexuellen Vielfalt auseinanderzusetzen, fehlt diese Wahlmöglichkeit in Situationen wie der in Luzern. Wer unerwartet mit Shibari im öffentlichen Raum konfrontiert wird, hat kaum die Chance, sich dieser Thematik zu entziehen oder sich darauf vorzubereiten.
Die Bedeutung von Kontext und Respekt
Es ist wichtig, den Kontext zu berücksichtigen, in dem solche Praktiken ausgeübt werden. Während in privaten Räumen oder speziellen Veranstaltungen wie Fetisch-Partys oder BDSM-Workshops ein klares Verständnis und Einverständnis aller Beteiligten besteht, fehlt dies oft im öffentlichen Raum. Der öffentliche Raum ist per Definition für alle zugänglich, und dies erfordert eine besondere Rücksichtnahme. Menschen, die sich in einem öffentlichen Park aufhalten, sollten nicht unerwartet mit Szenen konfrontiert werden, die sie weder verstehen noch gutheißen können. Es geht nicht darum, bestimmte Praktiken zu verurteilen, sondern darum, den richtigen Rahmen dafür zu finden – einen Rahmen, der die Freiheit des Einzelnen respektiert, ohne die Grenzen anderer zu überschreiten.
Die Verantwortung im öffentlichen Raum
Die Ereignisse in Luzern und Erfurt unterstreichen, dass der öffentliche Raum keine Bühne für jedwede Form des Selbstausdrucks sein kann, wenn dies die Rechte und das Wohlbefinden anderer Menschen beeinträchtigt. Eltern, die mit ihren Kindern in einen Park gehen, sollten nicht plötzlich gezwungen sein, komplexe und möglicherweise unangemessene Themen zu erklären. Eine öffentliche Fläche sollte ein sicherer Raum für alle sein, und dies erfordert eine Rücksichtnahme, die über die eigenen Bedürfnisse hinausgeht.
Scheinheilige Verharmlosung
In Luzern sagte ein Teilnehmer:
„Wieso nicht! Ich sehe nichts Verwerfliches darin.“
Er bezweifelt, dass der Anblick auf Kinder verstörend wirken könnte, und fragt, warum sie ihr Hobby verstecken sollten. Diese Verharmlosung halte ich für scheinheilig. Die Shibari-Szene zieht sich bewusst in sichere Räume zurück, weil es fast immer einen sexuellen Kontext gibt. Kein Shibari-Fan käme auf die Idee, seinem Kind im Kinderzimmer zu zeigen, was Mama und Papa für ein „tolles“ Hobby haben. Andere hingegen im öffentlichen Raum ungefragt diesem Szenario auszusetzen, soll plötzlich okay sein? Das ist aus meiner Sicht völliger Blödsinn und zeugt von wenig Weitsicht.